Das Dorf am Ende der Welt



“Große Städte, flaches Land / überall kannst Du traurig / überall kannst du fröhlich sein.” Es sind auch aus heutiger Sicht immer noch einige wunderbare Refrains und kleine Wahrheiten über Kleinstadtliebe und das Leben am gefühlten Ende der Welt, die auf verstaubten Bändern in einem kleinen Studio in Bad Salzuflen vergraben liegen müssen. Dort haben in den 80er Jahren eine Hand voll Bands aus dem Dreieck zwischen Bielefeld, Herford und dem kleinen Kurort Bad Salzuflen in Ost-Westfalen unter dem Deckmantel “Fast Weltweit” ihre ersten Aufnahmen veröffentlicht. Gegründet hat Fast Weltweit – mehr als kleine Szene oder Freundesclique denn als Label – BERND BEGEMANN zusammen mit seinem “besten Freund” Michael Girke. Ab 1984 wurden mit minimalen Budget und beschränkten Produktionsmitteln in Kleinstauflagen und Eigenregie ein Sampler, ein paar Singles und zwei “Cassetten-Sampler” veröffentlicht. Initialzündung und musikalisch prägend waren zunächst früher Punk und New Wave – Musik, die bei John Peel auf BBC Radio 1 gespielt wurde und die auf Grund der dort stationierten britischen Armee in ganz Ostwestfalen zu empfangen war. Später bildete dann mehr und mehr britischer Tea-Time-Pop gut hörbar die Blaupause des Fast-Weltweit-Sounds: The Jam, die Housemartins, Smiths oder Pale Fountains, Orange Juice und Atztec Camera. Und obwohl die Sprache dieser musikalischen Vorbilder “natürlicherweise” Englisch war sangen die meisten der Fast-Weltweit-Bands fast ausschließlich auf deutsch. Zu befremdlich und indirekt schien Englisch über ihre Befindlichkeiten und ihr Leben in der Provinz zu sprechen. Zudem hatten bereits Anfang der 80er Jahre neue Bands mit einer antinationalistischen Haltung wie die Fehlfarben, Abwärts oder Palais Schaumburg deutschsprachige Musik vom alten Schlagermief befreit. In dieser Tradition stehend verschafften sich nun in der zweiten Hälfte der 80er Jahre unter anderem JOCHEN DISTELMEYER mit seiner Band “Bienenjäger” und Frank Spilker mit einer ersten Formation seiner Band “Die Sterne” über das Fast-Weltweit-Label Gehör. Die Musiker spielten und tourten gemeinsam und schlugen gelegentlich bei einschlägigen Indie-Plattenlabels auf. Szeneintern am einflussreichsten war wohl Michael Girke mit seiner Band “Jetzt!”. Im Gewand des damals schwer-angesagten C86-Gitarrensounds gab Girke textlich die Richtung vor, an der sich alle anderen orientierten und die Distelmeyer mit seiner späteren Band BLUMFELD ab Ende der 90er Jahre auch wieder verstärkt weiterverfolgt. Als Indiz dafür befindet sich auf „Old Nobody“ (1999), dem dritten BLUMFELD-Album, eine textlich leicht veränderte Coverversion des Jetzt!-Stückes „Kommst Du mit in den Alltag“. Auch BERNADETTE HENGST, die auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos der Fast-Weltweit-Männerclique stets charmant lächelnd aus dem Rahmen fällt, covert später auf ihrem Album “Machinette” (2008) mit “Das Dorf am Ende der Welt” einen Michael Girke Song. In einem vor Jahren erschienenen Artikel im Tagesspiegel schildert Begemann nochmal knapp und amüsant seine Erinnerungen an diese frühen, gemeinsamen Anfangsjahre: “Grandios am falschen Ort: Deutscher Pop kommt aus der Provinz”

Tagesspiegel: “Ost-Westfalen, Fast-Weltweit” 

Der „elektrische Liedermacher“ BERND BEGEMANN macht schließlich auch als erster den Sprung von Ostwestfalen nach Hamburg – die meisten anderen folgen ihm später. Frank Spilker besetzt dort seine  Band “Die Sterne” neu und BERNADETTE HENGST formiert “Die Braut Haut ins Auge”. JOCHEN DISTELMEYER gründet 1990 BLUMFELD und spinnt musikalisch und textlich zunächst am Faden der damals Zeichen setzenden Hamburger Band Kolossale Jugend weiter. Die gemeinsame Herkunft aus der Provinz wird somit immanent im Kern der “Hamburger Schule” verankert: im reflektierten Umgang und der teilweise künstlichen Überhöhung der eigenen Lächerlichkeit, in einer aus Versatzstücken montierten, städtischen Identität und in der ironischen Verwendung von Sounds und Zitaten. Selbst in BERNADETTE HENGSTs letzter Inkarnation als DIE ZUKUNFT – gemeinsam mit Knarf Rellöm und Guz von den Aeronauten – summt zwischen den Zeilen stets der Geist von Bad Salzuflen mit: Lasst uns Drogen nehmen und rumfahren.

Die Zukunft – Drogen nehmen und rumfahren 
Bernadette La Hengst – Das Dorf am Ende der Welt 

Die Bienenjäger – Große Städte, flaches Land (1987) 
Fast Weltweit